Professor Dr. iur. Rolf Gröschner, Jena

 

Ein Studium bei Johann Georg Helm

oder

Von der Leidenschaftlichkeit der Lehre als Moment der Wissenschaftsfreiheit

 

Johann Georg Helm war ein leidenschaftlicher Lehrer des Rechts. Von dieser Leidenschaftlichkeit der Lehre soll im folgenden die Rede sein: im ersten Teil („Reminiszenzen“) aus der dankbaren Erinnerung an ein (Erst-)Studium der Wirtschaftswissenschaften in Nürnberg 1968-1974; im zweiten Teil („Reflexionen“) mit dem Anliegen, die individuellen Eindrücke des Studiums auf die institutionellen Bedingungen der Wissenschaftsfreiheit hin zu diskutieren und dabei die Konturen einer Dogmenphilosophie des Art. 5 Abs. 3 GG zu skizzieren. J.G.H. hat diese Philosophie zwar nicht gelehrt – schließlich war er kein Verfassungsrechtler –, er hat sie aber gelebt. Und auch für das Wissenschaftsleben gilt: primum vivere, deinde philosophari!

 

1. Reminiszenzen

 

In meiner ältesten Erinnerung an J.G.H. sehe ich ihn am Pult der Aula im Altbau der Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Fakultät in der Nürnberger Findelgasse. Es ist sein zweites und mein erstes Semester an dieser Fakultät. Da es sich um eine Übung im Privatrecht handelt und meine Vorkenntnisse in diesem Fach gleich Null sind, sehe ich ihn aus den hinteren Reihen. Er erscheint mir ungemein lebendig, bleibt niemals lange hinter dem Katheder, ist immer in Bewegung und zieht mit seinem sozusagen verkörperlichten geistigen Temperament sogar im unruhigen Herbst des Jahres 1968 die Aufmerksamkeit der Zuhörer auf den Gegenstand der Veranstaltung: den Bruch zahlreicher Weinflaschen aufgrund eines unsachgemäß-unsanften Rangierstoßes im Güterbahnhof der Stadt N. im Hinblick auf mögliche Ansprüche des (Versendungs-)Käufers. Obwohl ich nicht weiß, daß ich einen Transportrechtler vor mir habe, staune ich über die Fachkompetenz des quirligen Professors und über dessen offenbar gezielt eingesetzte Didaktik. Ex post betrachtet ist der damals erläuterte Unterschied zwischen der Gefahrtragung im Regelfall des § 323 BGB und den Ausnahmefällen der §§ 446 und 447 BGB selbst dem Öffentlichrechtler bis heute bewußt geblieben – obwohl es den „Grundkurs im Bürgerlichen Recht“ zur Vor- und Nachbereitung der Helmschen Veranstaltungen damals noch nicht gab. 28 Jahre später, in seiner Abschiedsvorlesung im Auditorium Maximum des alten Fakultätsgebäudes am 13. Februar 1996 („Privatrecht an einer Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Fakultät“), nennt J.G.H. die akademische Lehre „Dienst an den Studenten“, bedankt sich für die universitäre Unterstützung seiner „didaktischen Anliegen“ und fügt hinzu, Didaktik als Dienstleistung sei bei ihm immer auf „Begreifen statt Büffeln“ gerichtet gewesen. Die didaktische Leidenschaft, die in jeder seiner Lehrveranstaltungen zum Ausdruck kam, war deshalb nie die Leidenschaft eines kommerziellen Repetitors, sondern stets die Leidenschaft des akademischen Lehrers, systematische Zusammenhänge zwischen Begriffen, Prinzipien und Instituten des positiven Rechts (also Dogmatik) so transparent wie möglich darzustellen. Daß die speziell für Wirtschaftswissenschaftler angetretenen Repetitoren in Nürnberg dagegen auf Dauer keine Chance hatten, ist ein schöner Beweis dafür, daß sowohl die Lehrenden als auch die Studierenden besser sind als ihr derzeitiger Ruf.

 

Deutlicher und differenzierter als in den Übungen des Grundstudiums sehe ich J.G.H. in den Seminaren des Hauptstudiums vor mir. Ich hatte mich für das Gesellschaftsrecht entschieden und ein Referat über die Rechtsnatur der Offenen Handelsgesellschaft übernommen. Nun wartete ich zusammen mit fünf weiteren Bearbeitern desselben Themas auf die regelmäßig erst zu Beginn der Seminarsitzung stattfindende Auswahl des Referenten. Auch wenn das damalige Lampenfieber (das sich zum Glück schon während der Einleitung legte) keine intensiveren Überlegungen über den Sinn dieses späten Auswahlzeitpunktes zuließ, bemerkte ich doch, daß alle Kandidaten hochmotiviert waren – sie studierten Ökonomie und hatten das Wettbewerbsprinzip längst verinnerlicht – und sich außerdem alle auf den Vortrag gut vorbereitet hatten: Es hätte ja jeden treffen können. Aus heutiger Sicht spricht deshalb alles dafür, daß hier hochschulpädagogische Absichten am Werke waren. Die Referate selbst wurden von J.G.H. ausnahmslos mit großer Aufmerksamkeit verfolgt, die sich an der Anspannung der mimischen Muskulatur und einer typischen Augen- und Brauenbewegung ablesen ließ, mit der je nach Intensität Zustimmung, Skepsis oder kommender Widerspruch verbunden war. All dies wurde in der Diskussion in einer Art und Weise artikuliert, daß der Gelobte nicht übermütig und der Getadelte nicht schwermütig werden konnte. Denn immer war klar, daß es nicht um die Person ging, sondern um die Sache, daß man eine Sache aus unterschiedlichen Perspektiven sehen konnte, daß es aber auch Grenzen einer vertretbaren Argumentation gab. Es muß dieses im besten Sinne des Wortes „Seminaratmosphäre“ zu nennende argumentative Klima gewesen sein, das mich bei J.G.H. nachfragen ließ, ob er die Betreuung und Begutachtung meiner Diplomarbeit übernähme. Das Thema war selbst gewählt – was ihn freute – und lautete: „Der Einfluß sozialrechtlicher Vorstellungen auf das Schuldverhältnis der Personengesellschaft“. In einem ausführlichen Gespräch, in dem er mir den Eindruck vermittelte, daß Diplomanden aus einer geradezu kollegialen Nähe über ihr Thema sprechen dürfen, wurde festgelegt, daß es im Kern der Arbeit um die Stellung des Gesamthandsprinzips im System der §§ 705 ff. BGB und um die „faktische Gesellschaft“ gehen sollte. Nach einem Jahr, in dem ich meinen Diplomvater nicht mit Fragen belästigen wollte (obwohl er dies nicht als Belästigung empfunden hätte), trug die eingereichte Arbeit den Untertitel „Eine rechtshistorische Untersuchung zur Aktualisierung des rechtsdogmatisch wirksamen Sinngehalts eines rechtsphilosophisch und rechtssoziologisch verstandenen Sozialrechts“. Da sie aufgrund dieser eigenmächtig erweiterten Themenstellung den doppelten Umfang des Diplomarbeitsdurchschnitts hatte, hätte es nicht verwundert, wenn J.G.H. ob der Eigenmächtigkeit verärgert reagiert und eine ernsthafte Einlassung auf den – nicht eben bescheidenen – Anspruch der Arbeit vermieden hätte. Er ließ sich jedoch auf die Sache ein (ich kann mich auch sonst an keinen Fall von Dialogverweigerung erinnern) und wies mir mit seinem Gutachten den Weg zunächst in ein (Zweit-)Studium der Jurisprudenz und dann in die Wissenschaft des Rechts – wobei weniger die Benotung als solche der Wegweiser war als die Schlußwürdigung, in der das „Erstaunen“ darüber artikuliert wurde, daß der Verfasser sich „in seinem riesigen, fast weltumspannenden Arbeitsfeld“ zurechtgefunden und „überall ausgewogen und frei von einseitigen Dogmatisierungen“ argumentiert habe. Das Lob fällt auf den Gutachter zurück, in dessen Seminaren der Diplomand das entsprechende Wissenschaftsethos kennen- und schätzengelernt hatte.

 

„Frei von einseitigen Dogmatisierungen“: so habe ich J.G.H. in allen ernsthaften Gesprächen innerhalb und außerhalb der Universität erlebt, mag es um (Rechts-)Wissenschaft oder (Rechts-)Philosophie, um (Hochschul-)Politik oder Fakultätsfragen oder schlicht um die Lebenswirklichkeit gegangen sein. Wenn ich mich heute, ein Vierteljahr nach seinem unerwarteten Tod, nach dem tieferen Grund für dieses Ethos frage, für diese persönlichkeitsprägende Grundhaltung des Wissenschaftlers und Menschen J.G.H., dann glaube ich nach der Lektüre eines autobiographischen Fragments, ihn in der existentiellen Erfahrung des Krieges suchen zu müssen – im eigenen Einzug per Gestellungsbefehl zu den „Pimpfen“, im Einsatz des Vaters als Sanitätsoffizier in Frankreich, Italien und Österreich, des älteren Bruders als Sanitäter in Rußland und der Schwester im Krankendienst in Deutschland. Auch wenn der Familie, wie J.G.H. schreibt, „Schlimmeres“ erspart geblieben ist, war das Erlebte doch offenbar schlimm genug gewesen, um eine innere Widerstandshaltung gegen „einseitige Dogmatisierungen“ entstehen zu lassen. In seiner Dissertation über „Die Rechtsstellung der Zivilbevölkerung im Kriege in ihrer geschichtlichen Entwicklung“ (1957) – deren Thema von dem Hintergrund der erwähnten Erfahrung kaum als Zufall gedeutet werden kann – hat er herausgearbeitet, was seit jeher einen effektiven völkerrechtlichen Schutz der Nichtkombattanten verhindert hat: die schon in der Antike verbreitete „verhängnisvolle Verbindung zwischen der Idee des gerechten Krieges und der Vorstellung von der Kollektivschuld des gegnerischen Volkes“ (S. 134), wie sie im zweiten Weltkrieg „wieder auferstanden“ (S. 135) ist. Die emphatische Skepsis gegenüber verabsolutierten „Ideen“, die J.G.H. gerade in Gesprächen über philosophische Themen zum Ausdruck brachte, hatte also außer lebensweltlich-biographischen auch wissenschaftlich-völkerrechtsgeschichtliche Gründe. Am besten läßt sie sich vielleicht verstehen, wenn man die betreffenden Ideen als „einseitige Dogmatisierungen“ interpretiert, die der argumentativen Auseinandersetzung entzogen sind und deshalb den Charakter von Glaubenssätzen annehmen – von Glaubenssätzen in jenem nicht-religiösen Sinne, in dem auch die „völkische Bewegung“ eine Glaubensbewegung gewesen ist. Dann ist J.G.H. unbedingt zuzustimmen. Denn dann drohen Glaubenskriege, zu deren Überwindung der Schlußsatz der Dissertation nur die „bange Frage“ nach den „Kräften der Moral und der Vernunft unseres Jahrhunderts“ formuliert (S. 135). Fast vierzig Jahre später dankt J.G.H. im Schlußsatz seiner Abschiedsvorlesung „für ein friedliches und erfülltes Leben auch im Beruf“.

 

Insgesamt gesehen wird man daher wohl sagen können, daß J.G.H. von einer tiefen Friedenssehnsucht erfüllt war, die ihn nicht nur den Krieg im großen, sondern auch die Kriege im kleinen verabscheuen ließ. Letztere verhinderte er in der Familie durch Liebe, am Lehrstuhl durch Herzlichkeit, in der Universität durch Kollegialität und im Hörsaal durch Leidenschaftlichkeit – und zwar durch eine Leidenschaftlichkeit, deren Quelle noch einiger allgemeinerer Überlegungen wert erscheint.

 

2. Reflexionen

 

„Wer will was von wem woraus?“ Diese Grundfrage für die Lösung von Rechtsfällen war selbstverständlich auch von jenem temperamentvollen Professor gestellt worden, der im Herbst 1968 einen so nachhaltigen Eindruck auf mich gemacht hatte. Heute ist mir klar, daß seine Didaktik nur vordergründig darauf abzielte, den konkreten Fall etwa der Gefahrtragung beim Versendungskauf zu lösen, es ihm hintergründig jedoch immer auf die Struktur und das Prinzip des Rechts angekommen ist – kurz gesagt also darauf, den Streit („wer von wem?“) als strukturelle Eigenschaft und die gerechte Streitentscheidung („was woraus?“) als prinzipielle Aufgabe des Rechts zu vermitteln. Die Leidenschaftlichkeit, mit der J.G.H. diese Vermittlerfunktion des Rechtslehrers – um es zu wiederholen: in jeder einzelnen Lehrveranstaltung – erfüllt hat, kann deshalb nicht allein mit didaktischen Interessen erklärt werden: „Dienst an den Studenten“ war seine Didaktik im Dienst am Recht und an der Wissenschaft vom Recht. So, wie J.G.H. diese Wissenschaft aufgrund seiner ausgeprägten rechtshistorischen Sensibilität verstand, war sie römisch-rechtlichen Ursprungs und damit „Jurisprudenz“, „iuris prudentia“, nicht exakte, more geometrico zu betreibende „iuris scientia“: eine Wissenschaft also, in der nicht der axiomatisch-deduktive Schluß dominiert, sondern die von Lebensklugheit und Gerechtigkeitssinn getragene Abwägung. In jenem „Gerechtigkeitssinn“, von dem die Pastorin in ihrer Trauerrede am 23. Mai 2000 zurecht sagte, er habe J.G.H. „ausgezeichnet“, dürfte der Ursprung sowohl seiner Lehrleidenschaft als auch seiner Ideenskepsis gelegen haben: Wenn der Streit die Struktur und die gerechte Streitentscheidung das Prinzip des Rechts bildet, ist der Satz „audiatur et altera pars“ die Grundregel der Jurisprudenz. „Einseitige Dogmatisierungen“, in denen die Gegenseite ungehört bleibt und die Entscheidung als Glaubensentscheidung ohne Gegenargumente getroffen wird, führen dann per definitionem zu Unrechtsentscheidungen und – wie man aufgrund der vorgetragenen Reminiszenzen wohl zwanglos folgern darf – zu Krieg zunächst im kleinen und dann im großen. So gesehen steht eine nicht „szientistisch“, sondern „prudentiell“ verstandene Rechtswissenschaft immer im Dienste der Friedenssicherung.

 

Versetze ich mich mit diesem Gedanken noch einmal zurück in meine Studienzeit in Nürnberg, sehe ich J.G.H. im hellen Lichte seiner Friedenssehnsucht und seines Gerechtigkeitssinnes als einen Lehrer des gewaltfreien Streits mit Worten („polemos“), der niemals den „Krieg“ als den Vater aller (juristischen) Dinge bestimmt, der den Gegner eines Rechtsstreits niemals als „Feind“ bezeichnet, und der eine mit Gründen vorgetragene andere Ansicht eines Kollegen niemals als Angriff auf die eigene Person empfunden hätte. In diesem Lichte sehe ich auch die mich damals so überraschende Offenheit, mit der er das Gespräch über die Konzeption der Diplomarbeit führte und mit der er die mündliche Prüfung im Gesellschaftsrecht gestaltete (selbstverständlich im Kapitalgesellschaftsrecht, weil das Personengesellschaftsrecht durch Seminar- und Diplomarbeit ja bereits „abgeprüft“ war): J.G.H. hielt es nicht für unter seiner Professorenwürde, einen anderen Lösungsweg als den von ihm vorgeschlagenen zu akzeptieren. Sollten meine eigenen Absolventen dies dereinst auch von mir sagen können – worum ich mich bemühe –, wäre J.G.H. der erste, dem sie dafür dankbar sein müßten.

 

Meine letzte Begegnung mit J.G.H. fand am 8. Juni 1998 in Jena statt. Dreißig Jahre nach meinem ersten Hörsaalerlebnis mit ihm waren die Rollen vertauscht. Nun war er es, der im Auditorium saß (allerdings nicht in den hinteren Reihen) und der 90 Minuten Rechtsphilosophie (über „Das neuzeitliche Selbstverständnis und die These von der Menschenwürde“) mit derselben Aufmerksamkeit und mit denselben Augen- und Brauenbewegungen verfolgte, die ich seit meinem Seminarreferat kannte. Das anschließende, in größter fachlicher und persönlicher Nähe geführte Gespräch gehört nicht nur deshalb zu den schönsten Erinnerungen meines bisherigen Berufslebens, weil der ehemalige Lehrer die Vorlesung „mitreißend“ fand, sondern vor allem deshalb, weil der ehemalige Schüler darauf antworten konnte, was er hier zu Papier zu bringen versucht: daß es das mitreißende Engagement von J.G.H. gewesen ist, in dem er die Leidenschaftlichkeit der Lehre erst als Form der Engagiertheit für die Funktion des Rechts und dann als Moment der Wissenschaftsfreiheit erahnt hat. Aus der Ahnung ist inzwischen eine dogmatisch und dogmenphilosophisch präzisierte Lehre zu Art. 5 Abs. 3 GG geworden, deren Umrisse noch kurz skizziert werden sollen.

 

Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG lautet: „Kunst und Wissenschaft, Forschung und Lehre sind frei“. „Wissenschaft“ ist dabei der „Forschung“ und „Lehre“ umfassende Oberbegriff; „Wissenschaftsfreiheit“ umfaßt demgemäß „Forschungsfreiheit“ und „Lehrfreiheit“. Als Grundrecht eines Universitätsprofessors enthält die hier themagemäß besonders interessierende Lehrfreiheit zunächst einmal – wie alle Freiheitsgrundrechte nach traditionell rechtsstaatlichem Verständnis – ein Abwehrrecht gegen ungerechtfertigte Eingriffe staatlicher Gewalt. Das heißt im Kern: Der einzelne Hochschullehrer soll den Gegenstand, den Inhalt und die Form seiner Lehre (im Rahmen verfassungsrechtlich zulässiger gesetzlicher Regelungen) selbst bestimmen können. Dieses Selbstbestimmungsrecht der Lehrfreiheit bedeutet nun freilich nicht, Professoren könnten in der Lehre tun und lassen, was sie wollten und dabei – in fehlgeleiteter Analogie zu § 903 BGB – mit den Studierenden nach Belieben verfahren. Fehlgeleitet ist diese Analogie zum einen deshalb, weil das „beliebige“ Verfahren des Eigentümers auf Sachen – bzw. im Bereich des Art. 14 GG darüber hinaus auf vermögenswerte Rechte – bezogen ist, und nicht auf Personen; zum anderen und hauptsächlich aber deshalb, weil Freiheit und Eigentum verfassungsrechtlich und rechtsphilosophisch kategorial verschieden sind: Über den Inhalt seiner Freiheit bestimmt der jeweilige Grundrechtsträger – und zwar aufgrund eines „angeborenen“ Rechts, das Rousseau republiktheoretisch und Kant moralphilosophisch systematisiert hat –, während das Eigentum als Institutsgarantie nur so gewährleistet ist, daß gem. Art. 14 Abs. 1 Satz 2 GG schon der „Inhalt“ (nicht erst die „Schranke“ wie bei der Freiheit) „durch die Gesetze bestimmt“ werden muß. Weil man also mit Freiheit geboren wird, während man zum Eigentümer gekoren werden muß (durch die Rechtsordnung), verrät die verbreitete Rede von der „Eigentumsfreiheit“ wenig Sinn für den dogmatischen und philosophischen „Wesensgehalt“ (Art. 19 Abs. 2 GG) der Freiheitsgrundrechte. Im übrigen ist die Vorstellung, die angeborene Freiheit „haben“ zu können, eine existenzphilosophische Katastrophe und die Idee, sie „vermarkten“ zu wollen, die katastrophalste Form konsumideologischer Verblendung.

 

Vergleicht man die Lehrfreiheit mit anderen Freiheitsrechten des Grundgesetzes, fällt ein weiterer Unterschied auf, der zwar nicht kategorial ist wie derjenige zwischen Freiheit und Eigentum, der aber für das richtige Verständnis des Art. 5 Abs. 3 GG doch unerläßlich ist: „das Recht auf die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit“ (Art. 2 Abs. 1 GG), „die Freiheit des Glaubens, des Gewissens und die Freiheit des religiösen und weltanschaulichen Bekenntnisses“ (Art. 4 Abs. 1 GG), „das Recht, seine Meinung in Wort, Schrift und Bild frei zu äußern und zu verbreiten“ (Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG), sind offensichtlich individuelle, von den Grundrechtsträgern je für sich wahrzunehmende Rechte, für deren Wahrnehmung de iure kein institutioneller Rahmen erforderlich ist. Bereits der nächste Satz des Art. 5 Abs. 1 GG formuliert etwas anderes: „Die Pressefreiheit und die Freiheit der Berichterstattung durch Rundfunk und Film werden gewährleistet“. Hier handelt es sich schon vom Wortlaut her – und insoweit durchaus in zutreffender Analogie zu Art. 14 Abs. 1 Satz 1: „Das Eigentum und das Erbrecht werden gewährleistet“ – um eine Gewährleistung in Form einer Einrichtungsgarantie: „Presse“, „Rundfunk“ und „Film“ sind von Verfassungs wegen in einem gewissen institutionellen Rahmen so einzurichten, daß in diesen und durch diese Institutionen die betreffenden Freiheitsrechte verwirklicht werden können. Zur Unterscheidung von der individuellen Freiheit kann man diese Freiheitsform institutionelle Freiheit nennen. Daß die Wissenschaftsfreiheit eine solche institutionelle Freiheit ist, hat nun erhebliche methodologische Konsequenzen: Im Unterschied zu den individuellen Freiheitsrechten, deren Interpretationskriterium das Selbstverständnis ihrer Träger ist, sind institutionelle Freiheitsrechte funktional zu interpretieren. Das Selbstverständnis der einzelnen Grundrechtsträger wird dadurch nicht etwa bedeutungslos (denn Freiheit bleibt Freiheit und wird auch als institutionelle Freiheit nicht Eigentum), es ist aber auf die Funktion hin auszulegen, die der betreffenden Institution im Gesamtzusammenhang der freiheitlichen Ordnung des Grundgesetzes zukommt. Konkret für die Lehrfreiheit bedeutet dies, daß „Lehre“ nur ist, was auf Wissenschaft beruht – wobei die Kriterien dafür nicht vom Staate gesetzt, sondern von der Wissenschaftszunft im Hinblick auf die „Schlüsselfunktion“ freier Wissenschaft für den Einzelnen und die Gesellschaft (BVerfGE 35, 79/114) entwickelt werden.

 

Was hat es nun mit der Leidenschaftlichkeit jener notwendig wissenschaftlichen – weil im institutionellen Rahmen der Wissenschaftsfreiheit gewährleisteten – Lehre auf sich? Dazu ist eine letzte freiheitsrechtliche und freiheitsphilosophische Differenzierung erforderlich: die Differenzierung zwischen monologischer und dialogischer Freiheit. Monologisch, je für sich (solus ipse) oder solipsistisch ist beispielsweise die Freiheit des Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG auszuüben, seine Meinung zu äußern, etwa bei einer öffentlichen Rede eines Politikers „Bravo“ oder „Aufhören“ zu rufen. Die Lehrfreiheit ist demgegenüber eine dialogische oder kommunikative, ein Auditorium voraussetzende Freiheit. „Lehren“ kann ein Universitätsprofessor im institutionellen Rahmen des Art. 5 Abs. 3 GG nur gegenüber mindestens drei Hörern („tres faciunt auditorium“). Da diese Dialogik der Lehre ein Interaktionsverhältnis voraussetzt (Martin Buber hätte gesagt: ein „Zwischen“), gelten die Kriterien von Wissenschaft auch für die Hörer. Studierende, die ihrem Professor im Hörsaal „Aufhören“ zurufen, bewegen sich deshalb nicht etwa im weiten Schutzbereich der individuellen Meinungsfreiheit, sondern im funktional verengten Bereich der institutionellen Wissenschaftsfreiheit, in dem es um wissenschaftliche Meinungen geht. Anders als bei einer schlichten Meinungsäußerung obliegt ihnen daher die Begründungslast für ihren Zuruf, die sie ohne Einlassung auf den Wissenschaftsanspruch ihres Professors nicht erfüllen können – gerade wenn sie glauben, gute Gründe zu haben, diesen Anspruch zu kritisieren.

Nach all dem lautet die Pointe dieser Reflexionen: Nur die leidenschaftliche, ähnlich temperamentvoll wie von J.G.H. ausgeübte, didaktisch ähnlich geschickt wie von ihm aufbereitete und von einem vergleichbaren Wissenschaftsethos getragene Lehre ist unter den Bedingungen der Massenuniversität überhaupt geeignet, jenes dialogische „Zwischen“ oder jenes kommunikative Wechselspiel zwischen Lehrenden und Lernenden entstehen zu lassen, auf das Art. 5 Abs. 3 GG als institutionell-dialogische Freiheit abstellt. Insofern ist die Leidenschaftlichkeit der Lehre ein „Moment“ der Wissenschaftsfreiheit im Hegelschen Sinne: ein integraler Bestandteil des Gesamtphänomens, das als Ganzes nur auf den Begriff gebracht und in seiner Funktionsfähigkeit nur erhalten werden kann, wenn man verhindert, daß die Lehrfreiheit als isolierbares „Element“ verstanden und denjenigen überlassen wird, die sie in fehlgeleiteten (J.G.H.: „einseitig dogmatisierten“) Freiheits- oder gar Eigentumsvorstellungen der Beliebigkeit preisgeben und den Hörsaal nur noch als Raum der Selbstdarstellung nutzen. Wie die Meinungsfreiheit im Hörsaal nicht die generelle Freiheit des Art. 5 Abs. 1 GG, sondern die spezielle Freiheit des Art. 5 Abs. 3 GG ist, entfaltet sich eine Professorenpersönlichkeit auch nicht im Schutzbereich der allgemeinen Handlungsfreiheit des Art. 2 Abs. 1 GG, sondern im besonderen, institutionell gehegten Wissenschaftsbereich des Art. 5 Abs. 3 GG. In diesem Bereich zu lehren, heißt insbesondere, die Studierenden mit den Regeln der Wissenschaftszunft vertraut zu machen und ihnen so das Mit-Reden im Wissenschaftsdiskurs zu ermöglichen. Wirkliche Wissenschaftler werden aus ihnen aber erst, wenn der Funke überspringt, der den Forscher zum leidenschaftlichen Forscher und den Lehrer zum leidenschaftlichen Lehrer macht. In einer Kulturwissenschaft wie der Jurisprudenz  springt dieser Funke nicht von alleine über, sondern nur über Persönlichkeiten, die durch ihr Engagement in der Lehre dokumentieren, daß es des je eigenen Einsatzes bedarf, um die Errungenschaften unserer Rechtskultur – und sei es „nur“ die Gefahrtragung beim Versendungskauf – zu begreifen, notfalls zu verteidigen und gegebenenfalls den Entwicklungen der Zeit anzupassen. Professorenpersönlichkeiten dieser Art praktizieren jenes öffentliche Bekennen („profiteri“), das dem Professor den Namen gegeben hat und das ohne ein Mindestmaß an Leidenschaftlichkeit niemals wagen würde, öffentlich zu werden. Johann Georg Helm war eine solche Persönlichkeit.